Wenn uns das Jahr 2013 eines gelehrt hat, dann folgendes: 1993 war kein gewöhnliches Jahr. So viele Jubiläen und Rückblicke, 20-Jährige bis zum Abwinken! Und es stimmt: Rückblickend fühlt sich besagter 52-Wochen-Zyklus, der die schreckliche Big-Pants-Small-Wheels-Phase ablöste, vielmehr wie der Beginn einer neuen Ära an, einer Ära, in der wir uns, ziemlich krass eigentlich, immer noch befinden. Nennt es beginnende Post-Postmoderne, nennt es den ersten Vorgeschmack auf das Digitale Zeitalter, auf jeden Fall muss irgendetwas in der Luft gelegen haben, denn vieles war neu und sollte sich seither nur noch verfeinern, verbessern, nicht mehr aber grundlegend umkehren wie in den Jahrzehnten davor.
Beispiele? Während in Berlin z.B. (ganz, ganz) langsam das begann, was heute immer neue Rekordbesucherschwärme in diese Stadt treibt, war in der Skate-Welt das Switch-Fahren z.B. endgültig im Standard-Repertoire angekommen; Rap, Punk und Hardcore waren plötzlich nicht mehr die einzigen Soundtracks für Skater, alles war offener, und Companys wie Girl haben auch deshalb ihr 20-jähriges Bestehen im Jahr 2013 so ausgiebig gefeiert, weil auch für sie galt und gilt, was die Souls of Mischief mit ihrem Albumtitel eh am besten von allen gesagt haben: „93 ’til Infinity“ hieß die Scheibe. „Infinity“ ist ein großes Wort, aber die 93 hallt noch immer nach, ganz massiv sogar. Besagtes Album war dabei nur eines von (mindestens) drei 93er-HipHop-Klassikern, die im Jahr 2013 zurecht noch einmal abgefeiert werden sollten. Die anderen beiden waren „Midnight Marauders“ von A Tribe Called Quest und – last but not least, und am selben Tag veröffentlicht wie die dritte Tribe-Scheibe, kurz vor Jahresende nämlich – „Enter The Wu-Tang (36 Chambers)“ vom Wu-Tang Clan.
Ja, der Wu-Tang Clan. Was für ein Haufen. Lebt ja immer noch, bis auf Ol’ Dirty, taucht immer mal auf Festivals auf, dabei wird GZA, immer noch der smarteste Rapper des Clans (und der beste Schachspieler von ihnen), in zwei, drei Jährchen auch so langsam aber sicher 50. Erst kürzlich hat Huf uns erzählt, dass er es eigentlich kaum glauben kann, „vor 20 Jahren diesen Sound abgefeiert zu haben – und heute in der Position zu sein, eine Kollaboration mit Wu-Tang zu machen. Deshalb wollte ich auch unbedingt mal einen Part zu einem HipHop-Song machen, hab aber nie ein geeignetes Stück gefunden“, erzählte uns Keith, und dann: „Nur hatte Gino sowieso immer schon die besten Songs weggeschnappt, was das angeht.“ Mr. Iannucci hingegen hatte nicht nur im „Snuff“-Video seinen Einstand zu Wu-Sound gefeiert (und später z.B. GZAs „Publicity“ als Soundtrack gewählt), sondern auch mal ein Board für 101, das ebenfalls dem Wu-Denker gewidmet war, und das wiederum hat laut Ginos Aussage den Clan dazu inspiriert, auch selbst mal Boards zu machen (die Firma hieß The Wu-Tang Hardgood Co.). Atiba, Pang, Umali, Kareem, Kalis, Dyrdek & Co. haben den Clan gerade erst für die DC-Anniversary-Kollektion in einem Clip besungen, Grund genug, hier noch ein paar Worte über die Entstehung von „Enter The Wu-Tang (36 Chambers)“ zu verlieren – denn das ist eines von nur ganz, ganz, ganz wenigen Alben, die wirklich in jede Sammlung gehören.
Was also war passiert, im Jahr 1993? Nun, drei Vettern aus Brooklyn namens Prince Rakeem/RZA, Genius/GZA und Ol’ Dirty Bastard (1968-2004) stockten in diesem Jahr ihr bereits seit Mitte der Achtziger bestehendes Rap-Projekt, die All In Together Now-Crew, um sechs weitere Mitglieder auf – Method Man, Ghostface (damals noch mit „Killah“-Zusatz), Raekwon, Masta Killa, U-God und Inspectah Deck – und hissten die Fledermaus-W-Flagge des Wu-Tang Clan. Bis unter die Zähne mit krassesten Kung-Fu- und Five-Percenter-Metaphern bewaffnet, formierte sich die neunköpfige Crew „wie Voltron“, wie sie sagten, wobei RZA mit locker aus der Hüfte produzierten Beats die Chipmunk-Ära schon vorwegnahm und die widersprüchlichen Begriffe „loose“ und „tight“ in einem krass-pragmatischen Taktgefüge dachte. Und so erschien im November des Jahres schließlich „Enter the Wu-Tang (36 Chambers)“, jener Meilenstein von einem Album, der den Clan „für immer zur absoluten Lieblingsband jedes HipHop-Aficionados an der East Coast“ gemacht hat, wie Aesop Rock es einst formulierte. Laut RZA war der Trick ganz einfach gewesen: „Wir haben keine Flips und Kicks hingelegt, wir flippten Texte und haben damit allen in den Arsch getreten“, wie er uns vor ein paar Jahren mal in einem persönlichen Gespräch verraten hat. Apropos Arschtritt: Hört euch allein „Bring Da Ruckus“, den Opener-Track, 20 Jahre und ein paar Wochen später einfach noch mal an. Diese Mischung aus Wut, Wildheit und wahnsinniger Aggression, die diese (damals noch) neunköpfige Hydra aus den „Slums of Shaolin“ da in die Welt gesetzt hat, hat die Erdachse dermaßen verschoben, dass NYC endgültig das Zentrum des Universums wurde und sich auch der Clan-Slang seither in alle Daseinsbereiche ausbreiten sollte. Denn nicht nur MJ hat kürzlich in seinem Jenkem-Interview die Voltron-Metapher ausgepackt: Als Girl Skateboards im Jahr 1993 aus der Taufe gehoben wurde, soll Mike Carroll angeblich zu Medienvertretern gesagt haben: „You know, we just formed like Voltron.“
Text: Renko Heuer