Tag: Shit in the 90s

Holger_Noseblunt_Mainz

Die Welt ist ein Kreislauf, was ihr nicht nur daran erkennen könnt, dass ich heute mal wieder einen Text für die PLACE schreibe, sondern auch am permanenten Revival alter Zeiten. Momentan werden bekanntlich die 90s überall gefeiert. Und das ganz zu Recht – Jahrzehnt der Innovation, das „golden age of hip-hop“, Koston-Ära, Steve Rocco, Big Brother, Tom Penny, Muska mit Ghetto Blaster, „Eastern Exposure“ realness, die Geburt von Plan B, „Video Days“, Mythos Mariano und natürlich auch der Film „Kids“.

Heute sind die Neunziger allgegenwärtig. Palace macht sie zum Kern seiner visuellen Identität, die von der Video-Ästhetik bis hin zur Kollektion mit adidas durchgezogen wird. Die Sony VX1000 wird zur Legende. Menschen ziehen Shirts mit dem Spruch „I was the shit in the 90s“ an.

Und das Gute an den Neunzigern war ja auch, dass so ein Spruch kaum zu überprüfen ist, weil niemand den Shit-Status wie heute mal eben überprüfen kann. Es gab damals schließlich weder YouTube-Clips noch Facebook-Likes, und die meisten Videotapes waren verwackelt oder sind irgendwann im VHS-Rekorder hängengeblieben. Wie ihr seht, es gibt akuten Aufklärungsbedarf, dem ich an dieser Stelle nachkommen will. Denn ich war dabei und war meistens nüchtern.

Oder um einen klassischen 1992er Spruch von Bill Clinton zu zitieren: „I never inhaled“.

1. Gangster shit.
Die Neunziger waren das goldene Zeitalter des Gangsta-Daseins. Biggie und 2Pac, Wu-Tang Clan, Fabian Alomar und Joey Suriel, Ghetto Blaster dabei, baggy pants, „Menace to Society“, Lockwood-Schoolyard-Bänke, der Film „Kids“ und viele andere Einflüsse haben Skaten in den Neunzigern geprägt. Und egal, ob du aus Wanne-Eickel, Halle oder Würzburg kamst, wenn der Menace-Hoodie gesportet wurde, war der Gangster-Modus auf „ON“.

Und wenn du einmal in deinem Leben nachts mit adidas Gazelles am EMB in San Francisco – dem MACBA jener Jahre – abgehangen hast, war der Realness-Tank voll. Leider hat der Gangsta-Lifestyle auch viele Opfer gefordert. Kiffen, Stumpfsinn, echte Drogen oder starres Leugnen, dass nach den Neunzigern noch weitere Jahrzehnte folgen, haben Darwins Theorie hart auf die Probe gestellt. Gibt es deshalb so wenige Zeitzeugen?

2. Heimwerkerkids
Bei aller Verherrlichung der Neunziger – es war das Jahrzehnt mit den beschissensten Skateparks und den schlechtesten Spots. Denn es gab gleich mehrere Probleme: Die Tricks waren zwar alle neu, aber die dazugehörigen Parks und deren Konzepte noch aus den Achtzigern. Leider dauerte es Jahre, bis die Industrie lernte, anständige Parks und schließlich Street Plazas zu bauen – für die wir damals getötet hätten.

Zuvor war das Motto „DIY“, allerdings kannte niemand das Wort und daher wurde Papa zum Heimwerker und verschraubte für uns den Paletten-Curb, oder wir klauten ein paar Beläge von der Baustelle, wie es Blumentopf so schön in „Wie lange fahren sie schon“ beschreiben. Und da Obstacles eh zweitrangig waren, haben wir uns im Parkhaus in unseren zu großen Blind-Jeans und im fetten Droors-Hoodie den Arsch abgefroren.

Nachts schliefen wir ein und träumten, wir seien Carroll, Iannucci oder Koston am Courthouse in LA – denn Barcelona gab es damals noch nicht. Die Stadt schon, das Mekka nicht.

3. Telefonzellen-Business
Natürlich gab es in den Neunzigern theoretisch schon Internet und Mobiltelefone, aber wir sprechen von 56K-Modems und Nokia 3210 – und das erst gegen Ende des Jahrzehnts. Wir sind die letzte Generation, die noch unvernetzt und unüberwacht aus dem Haus ging.

Im Rückblick war es eine freie Zeit. Wer nicht telefonieren kann, kann auch nicht angerufen werden. Stellt euch folgende 90s-Szenarien vor: Ihr wollt einen Freund anrufen und müsst dafür zuerst mit seinen Eltern sprechen – Festnetz only. Auf Tour eine Telefonzelle suchen, um zu Hause anzurufen. Dafür kein Kleingeld haben. Die Münze fällt durch. Sie so lange am Metallkasten reiben, bis sie warm wird (um danach angeblich besser angenommen zu werden).

Sich zu einen Tag vorher definierten Uhrzeiten treffen und ohne spontane SMS-Ankündigung zu erscheinen. Wortlos wieder nach Hause gehen, weil der andere nicht kommt. Einen Videopart nur zeigen können, indem man die physische Kopie mit eigenen Händen wohin fährt. Einen handschriftlichen Brief verfassen.

4. Print-Propaganda.
Propaganda war nicht nur der Titel des vierten Powell-Videos, sondern eine von mir dezent eingesetzte Anspielung auf die Vormachtstellung von Printmagazinen als meinungsbildendes Medium im Skaten. Nennen wir das Kind mal beim Namen: Ohne Blogs, YouTube, FB und Insta war es eine ziemliche Monokultur, um nicht zu sagen despotische Herrschaft der Magazine.

Du wolltest gesponsert werden? Deine Distanz in Kilometern zum nächsten Fotografen – Singular war Absicht, denn es gab nur einen – sagte etwas über deine Chancen auf Deals aus. Aber wie schön einfach und übersichtlich die Welt damals war. Mit Helge Tscharn Fotos machen war dein Fernsehauftritt zur „prime time“ und ein Monster-Cover dein Oscar.

Kein L-Pav hat dich auf YouTube geoutet, weil der Trick nicht gestanden war, und der einzige Weg zu kommentieren war ein Leserbrief an die Redaktion, der von Jens Schnabel oder David Luther entweder zerrissen oder verrissen wurde.

5. K-rated.
Es mag kein Geheimnis sein, aber vielleicht hat es euch noch niemand so deutlich gesagt. Jaja, wir wissen, dass Chris Senn so schnell gefahren ist, dass sein Flanellhemd im Wind zischte und John Cardiel das verdammte Union Square Rail in SF grindete wie ein Berserker – aber es gibt nur einen einzigen (Street-)Skater, der jahrein, jahraus die Messlatte für alle anderen nach oben legte.

Das war Eric Koston. Selbst in „Next Generation“ von 1991 ist Koston um Jahre voraus, seine „Goldfish“– und „Mouse“-Parts sind immer noch Klassiker, und er besiegelte die 90s mit seinem BS Nosebluntslide am Hubba Hideout (TWS-Cover) schon zwei Jahre vor ihrem Ablauf. Wer jemals eine Session mit Koston erlebt hat, weiß, was abging – namhafte Pros setzten sich wortlos hin und blickten mit offenem Mund in die Zukunft, weil Eric immer voraus war. Nur den K-Grind hat er nicht erfunden, sondern nach eigener Aussage bei Dan Peterka abgeschaut.

6. Das kürzeste Jahrzehnt
Die Neunziger dauerten nur neun Jahre! Ja, es stimmt wirklich – die Neunziger haben erst 1991 angefangen! Warum? Weil in dem Jahr erst die Videos auf den Markt kamen, die Skateboarding für immer verändern sollten. Lasst euch von niemand etwas anderes erzählen, diese Videos haben die neunziger Jahre eingeläutet:

1. „Video Days“ von Blind – das beste Video aller Zeiten, mit dem sich Guy, Jason, Rudy und Gonz unsterblich gemacht haben.

2. „Now’n Later“ von Planet Earth – nur wegen Brian Lottis wegweisendem Part und ein bisschen Jovantae-Turner-Style.

3. „Next Generation“ von H-Street – weil die Koston-Ära hiermit begann.

Ein Jahr später machte „Questionable“ von Plan B den Sack zu und fertig war Skateboarding, wie wir es heute haben – Style, Tricks, Geschmack. Alles, was wir heute machen, wurde von Menschen erfunden und irgendwann zum ersten Mal gemacht. Wenn nicht von Rodney Mullen anno dazumal, dann in den frühen Neunzigern.

7. Big pants, no big brands
Die Neunziger waren groß, weil Skateboarding so klein war. Und das Beste daran war, dass die großen Konzerne die Subkultur einfach nicht verstehen konnten. Nike und adidas bewiesen mit schlechten Kampagnen und fragwürdigen Produkten, dass sie im Mannschaftssport besser aufgehoben waren.

Stattdessen regierten Etnies, DC, Osiris und Co. und hatten dadurch auch Sichtbarkeit im Mainstream. Erst weit in den 2000ern drehte sich der Spieß um und Skateboarding ließ sich, angeführt von Nike SB, in der Post-Janoski-Ära als Fun-Sportart im Onlineshop der Giganten einsortieren. Das galt aber nicht nur für Schuhe, sondern auch für Apparel: In den Neunzigern waren es Blind-Jeans und Droors-Pulli, heute das V-Neck Shirt von American Apparel und die Jeans von Levi’s.

8. Big Pants, Small Wheels
Wir sprechen über die frühen Neunziger, als Tech angesagt war. Lateflips, Pressureflips und Noseslide-Crooks-Kombos regierten und viele Skater hörten einfach auf, weil ihnen die 38mm Wheels zu langsam und das Gezwirbel zu schwierig war. Pech gehabt – denn trotz aller Kritik war Skateboarding zu dem Zeitpunkt so kreativ wie nie.

Selbst wenn noch nicht alles so ausgereift war, in dieser Zeit wurde der Grundstock aller Techtricks gelegt, die heute von P-Rod, Shane und Co. in Perfektion gemacht werden. Der tatsächliche Tiefpunkt der Ära war Chris Fissels Part in „1281“ von New Deal, wie das ganze in schnell und schön funktionierte, zeigten Mike Carroll oder Henry Sanchez – vor allem in „Tim & Henry’s Pack of Lies“ von Blind – dem zu kurz geratenen Nachfolger von „Video Days“.

9. Als Workwear noch auf der Baustelle getragen wurde
Um es mal auf den Punkt zu bringen: Heute sind Skater eine gut erforschte Zielgruppe, für die die Industrie eine Schublade aufmachen kann. In den Neunzigern nahmen Skateboarder Mode aus anderen Bereichen und übertrugen sie auf ihren eigenen Kontext.

Man war erfindungsreich, ständig auf der Suche, adaptierte und machte sich die Dinge zu eigen. Egal ob Ralph Lauren-Shirts, Puma Clydes oder No-Name-Karohemden, Skateboarder kreierten ihren eigenen Look. Am interessantesten waren die Workwear-Marken wie Carhartt, Ben Davis oder Dickies.

Wer den Kram 1991 kaufen wollte, ging dort einkaufen, wo sonst Arbeiter ein und aus gingen – denn das „work“ in „Workwear“ hat tatsächlich etwas mit den Leuten zu tun, die sonst Bohrmaschinen und Presslufthammer bedienen.

10. Die echte Street League.
Die Neunziger waren authentisch, weil die Industrie am Boden war. Pros waren noch echte Menschen aus einer Zeit, in der Skateboarding keine Karriere, sondern vielleicht ein Ausweg aus einem kaputten Elternhaus war – real people with real problems.

Bei Demos großer Teams war es keine Seltenheit, dass die Hälfte der Fahrer kiffend im Bus saß oder Top-Pros in zwei Stunden einen halben Trick standen. Legendär waren diese Demos dennoch, denn danach gab es Stories für zwei Jahrzehnte, auch wenn der Plot dafür erst nachts um 12 begann, weil Sean Sheffey Proleten auf einer Kirmes wegboxte.

Der krasseste Gegensatz zu unserer Zeit, wo Street-League-Skater nach objektivierbaren Kriterien bewertet werden und aalglatte Pros wie P-Rod dank Marketingberatern vor laufenden Kameras besser sprechen können als deutsche Politiker.

Dieser Beitrag von Holger von Krosigk findet sich in unserer Jubiläumsausgabe, die du hier bestellen kannst.