In drei Wochen von Shanghai bis nach Kaxgar, unweit der Grenze zu Kirgisistan. Taylor Nawrocki aus New York City, Barney Page aus London, Vladik Scholz aus Köln, James Capps aus San Francisco, Tim McMeel aus Vietnam und ich aus Berlin, zusammen mit drei Medienvertretern: dem Australier Mike O’Meally als Fotograf, plus Tommy Zhao aus den USA und dem halb deutschen Weltenbummler und Veranstalter Patrik Wallner hinter den Filmkameras.
Mit solch großer Truppe ging es über 5.200 Kilometer mit dem Zug durch China über die „Seidenstraße“ – von Ost nach West. Auf dieser „Straße“ wurden, neben Waren und eben feinster Seide, Ideen, Religionen und ganze Kulturen transportiert und vermittelt. Völlig offline und komplett eingenommen von der Wüstenlandschaft Chinas, verbrachten wir mehrere Tage und Nächte in einem Schlafwagen. Willkommen auf einer Zeitreise durch Landschaften, geprägt von Kamelen, Industriestädten und Menschen mit sehr offenen Armen.
Barney Page – BS Smithgrind
Ich weiß noch genau, wie ich mit 16 Jahren völlig traumatisiert war, als ich meine erste Barcelona-Reise in einem Bus überstanden habe. 32 Stunden auf einer Zweierbank – mitten im Juli. Damals schwor ich mir, nie wieder die „30 Stunden auf der Sitzbank“-Grenze zu kratzen. Bis ich von unserer nächsten Zugfahrt erfuhr. Wir befanden uns bereits in Xi’an, der ältesten Stadt Chinas, die im Verlauf der Jahrhunderte immer mal wieder Hauptstadt war.
Eine Stadt mit viel Geschichte und idyllischen, aber durchaus hohen Stadtmauern. So manch ein Bösewicht klopfte schon an dieser Mauer, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Chinesischen Mauer besitzt. Shanghai konnten wir als Startpunkt abhaken, denn für die meisten von uns war die größte Hafenstadt der Welt ehrlich gesagt nicht viel mehr als einfach nur groß. Auch wenn wir wussten, dass wir damit den perfekten Spots den Rücken kehrten, konnten es alle kaum erwarten, endlich diese Reise anzutreten.
Von den drei langen Zugstrecken auf dieser Tour war die Fahrt von Xi’an nach Ürümqi mit 34 Stunden die längste. Eingeschüchtert von der bevorstehenden, extrem langen Reise, ging es in einen Import-Store für Schwarzbrot, Käse und Rotwein aus vertrauten Regionen. Ausgestattet mit einigen Taschen, gefüllt mit europäischen Gütern, ging es dann also zum Hauptbahnhof dieser urgroßväterlichen Stadt.
Wenn du dich auf eine derart lange Reise einstellen musst, lass dir gesagt sein, dass dein Körper das schon ganz von alleine auf die Reihe bekommt, indem der Faktor Zeit einfach völlig ignoriert wird. Denn alle fünf Minuten auf die Uhr zu schauen, ist wie eine meterhohe Sanduhr beim Ablaufen zu beobachten. Das Abwarten liegt uns also im Blut. Nach den ersten Runden Bier und einigen Gläsern Wein legten sich die meisten auf die recht rustikalen Schlafbänke in den für jeweils vier Personen gebauten Abteilen.
So ein chinesischer Zug macht viele Geräusche, und selbst bei einer weitestgehend geradeaus laufenden Strecke mit kaum Kurven wird man ordentlich durchgeschüttelt. Aber genau diese Geräusche waren sicherlich auch dafür verantwortlich, dass man so unglaublich gut schlafen konnte. Das Bier und der Rotwein waren sicherlich auch nicht ganz unbeteiligt. Taylor und James haben sogar mehr als 14 Stunden geschlafen. Ich hingegen zog das Los des Einzelgängers und durfte mein Schlafabteil mit zwei wildfremden Chinesen teilen.
Einer der beiden unbekannten Chinesen war Rechtsanwalt, der andere ein Lehrer. Mein Plan, sich einfach schlafen zu legen, wurde vorerst verschoben, denn zwei Flaschen Reiskorn luden dazu ein, die beiden vermeintlichen Akademiker, schlaflos wie ich, zu belustigen. Wir haben uns also mit Händen und Füßen verständigt und schnitten recht beweglich die wichtigen Themen des Lebens an: Fußball, Frauen und Krieg.
Daniel Pannemann – BS 180
Franz Beckenbauer, Podolski und Schweinsteiger sind bekannte „Deutsche“ unter meinen Kabinenkollegen. Und bescheiden wie sie sind, finden sie den chinesischen Fußball langweilig und nicht erwähnenswert – soweit ich es aus ihren Gestikulationen erahnen konnte. Nachdem ich es irgendwie geschafft hatte, fast unbemerkt auf mein Hochbett zu klettern, bin ich in wenigen Bruchteilen einer Sekunde eingeschlafen und erst nach mindestens zehn Stunden wieder aufgewacht, um mich aus dem Hochbett zu quetschen. Zwischen Bett bis Abteildecke lagen maximal 50 Zentimeter. Ich musste schon mindestens 23 Stunden geschafft haben, also etwas mehr als zehn Stunden waren noch übrig.
Die Züge, in denen wir gereist sind, hatten alle ein Bordrestaurant, ausgestattet mit einer enorm großen Küchencrew, die ungefähr die Hälfte des Wagons einnahm. In diesen Bordrestaurants fühlt man sich wie in einer Wes-Anderson-Kulisse, und auch das Personal verhält sich wie in einem Schauspiel. Ich würde sogar sagen, dass der Aufenthalt im Bordrestaurant bei dieser Tour die größte Zeitreise war. Mir fiel auf, wie die Zeit wie im Flug verging, wenn ich stundenlang aus dem Fenster blickte, um zu beobachten, wie die Wüste zu einer Berglandschaft wurde.
Eine leicht sentimentale Atmosphäre hat das Ganze, und all die Fragen, die du dir stellst, bleiben unbeantwortet. Es gab selten eine Reise, bei der ich mehr Fragen unbeantwortet lassen musste. Mir fiel auf, dass man alltägliche Fragen beantwortet, indem man sie googelt. Was in China, wie schon erwähnt, ausfällt. Man sammelt also Fragen und vergisst sie wieder. Leider keine wirklich lehrreiche Methode. Nachschlagewerke hatte keiner eingepackt, und überhaupt gab es keinen Moment, in dem ich irgendwen aus meiner Gruppe mit einem Buch gesehen hätte. Wahrscheinlich war diese Reise eher so etwas wie der Inhalt des Buches.
Vladik Scholz – BS Flip
Anstatt ein Buch zu lesen, lebt man die Geschichte gerade höchstpersönlich. Wir konnten innerhalb weniger Tage vom Sommer in den Winter und vom Flachland in die Berge ziehen, konnten beobachten, wie das chinesische Volk, in langsamen Schritten dem immer näher kommendem Westen entgegen, andere Gesichtszüge bekam. Sie wurden größer und religiöser, ärmer und interessierter. Abschließend kann man sagen, dass die längste Zugfahrt zugleich das größte Highlight dieser Tour war. Auch wenn wir die Eindrücke nicht sofort teilen, posten oder kommentieren konnten, bleibt die Erinnerung erhalten und wird im besten Fall im späteren Leben mit den Enkelkindern geteilt.
Text: Daniel Pannemann
Photos: Mike O’Meally